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Jeder von uns, davon bin ich überzeugt, hat ausreichend viel Kraft, Energie, Intelligenz, soziale Fähigkeiten und emotionale Begabung, um ein sinnvolles und glückliches Leben führen zu können. Doch vielfach wurde diese Kraft durch Eltern, Lehrer, Pfarrer, kurz durch die gesellschaftlichen Regeln und Normen blockiert, gebremst und beschnitten. Dazu eine kleine Geschichte:
»Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem die Elefanten hatten es mir angetan... Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber... blieb der Elefant an einem kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich außer Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum samt Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte.
Dieses Rätsel beschäftigte mich. Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon? Also fragte ich als kleiner Junge meinen Vater, meinen Lehrer, meinen Onkel nach dem Rätsel des Elefanten und sie antworteten, dass er dressiert sei. Doch wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?
Ich bekam keine schlüssige Antwort und vergaß das Rätsel um den angeketteten Elefanten bis ich jemanden fand, der doch eine Antwort wusste: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist. Ich stellte mir den neugeborenen, wehrlosen Elefanten vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt, um sich zu befreien. Doch trotz aller Anstrengungen gelingt es ihm nicht, weil der Pflock zu fest in der Erde steckt. Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert und am nächsten und am nächsten... bis er eines verhängnisvollen Tages seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant flieht nicht, weil er glaubt, dass er nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung, wie ohnmächtig er sich... gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimmste dabei ist, dass er diese Erinnerung nie mehr ernsthaft hinterfragt hat, dass er nie mehr versucht hat, seine Kraft ernsthaft auf die Probe zu stellen.
Mit dieser Botschaft, dass wir machtlos sind, sind wir gross geworden. Und seitdem haben wir nie mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureißen. Manchmal, wenn wir die Fußfessel wieder spüren und mit den Ketten klirren, gerät uns der Pflock in den Blick und wir denken: Ich kann nicht und werde es niemals können.«
Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren. Und zwar mit vollen Einsatz und aus ganzen Herzen.
nach Jorge Bucay, Komm ich erzähl dir eine Geschichte, deutsch., Sept. 2007
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